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S. und ihr Sohn. 

Das Leben mit einem hochsensiblen Kind. Wenn aus einem (oft verkannten) besonderen Persönlichkeits-
merkmal Gaben entdeckt und auch zugelassen werden.

Mein Name ist S. und aus Rücksichtnahme auf meinen Sohn schreibe ich anonym. Seine Privatsphäre ist mir wichtig und soll gewahrt werden.

Hochsensibilität! Hört sich eigentlich nicht dramatisch an. Wie zeigt sich dieses Persönlichkeitsmerkmal bei Kindern? Hochsensible Kinder sind stark empfänglich für leichte Reize. Sie nehmen diese bereits um das 3-fache stärker (oder noch intensiver) wahr als „normal sensible“ Kinder. Diese Empfindlichkeit ist beim Hören, Riechen, Schmecken und Sehen besonders ausgeprägt. Was bedeutet diese Diagnose nun für unseren Sohn, unseren Familienalltag? Mein „Vielfühler“ benötigte nach dem Kindergarten und nun nach der Schule oder Unternehmungen Ruhepausen und die Möglichkeit, wieder aufzutanken zu können.

„Hochsensible Kinder sind stark empfänglich für leichte Reize. Sie nehmen diese bereits um das 3-fache stärker (oder noch intensiver) wahr als „normal sensible“ Kinder.“

– S. –

Die Schattenseiten der Hochsensibilität – ein Leben am Rande von Geburtstagsfeiern und Co.

Mit Babyalter beginnend, bis zu seinem dritten Lebensjahr, fing mein Sohn sofort an, zu weinen, wenn sich fremde Menschen uns näherten. Ein Blick in den Kinderwagen, um mir zu sagen, was für ein süßes Kind ich habe? Fehlanzeige! Fröhliche Geburtstagsfeiern? Wurden nach ein-, zweimaligen Versuchen nach einer halben Stunde (aber innerlich einer gefühlten Ewigkeit) abgebrochen. Mein Kind weinte permanent. Wie oft hörte ich, er müsse sich an Lärm gewöhnen, so ist das Leben. Jedoch wusste ich immer schon, dass das Verhalten meines Sohnes einen Grund haben musste. Später wurde mir bestätigt, dass er ganz einfach überdurchschnittlich gut hören kann. Den Lärmpegel, den es nun mal auf Kindergeburtstagsfeiern gibt, nahm mein Kind um das 3-fache intensiver wahr. Die Angst war somit vorprogrammiert.

Ein Lichtblick und mit Dostojewski durch‘s Kindergartenalter

Mit drei Jahren kam mein Sohn in den Kindergarten. Mit der Zeit verblasste die Angst vor Fremden und so freuten sich die Nachbarn, wenn er mit ihnen über Gott und die Welt plauderte. Seine wunderbare Sprachgewandtheit war mit der eines Erwachsenen vergleichbar. Eine weitere schöne Eigenschaft von hochsensiblen Kindern: Sie „spielen“ mit der Sprache und können diese bereits in jungen Jahren wie Erwachsene einsetzen. In der Zeit, in der sich andere Kinder mit Bauklötzen beschäftigten, wandte sich mein Sohn Büchern zu, weil er sich für die Cover interessierte. Er konnte alle Titel von bestimmten Autoren aufsagen. Seine absoluten Lieblingsbücher waren damals von Dostojewski.

Hochsensibilität

Irgendwie Anders
Kathrin Cave & Chris Riddell

„Ihr Kind benötigt Förderung!“ Das Martyrium, sein Kind der Norm anzupassen, nahm seinen Lauf

Alsbald folgte allerdings die Ernüchterung: Die Pädagogen traten auf mich zu und meinten, mein Sohn benötige Ergotherapie. Er könne nicht gut klettern. Auch das ist eine Eigenschaft von hochsensiblen Kindern: Sie bewegen sich sehr unsicher. Tja, damit begann das ganze Martyrium: Es folgten Motopädagogik, Kinderturnen, Sozialkompetenztrainings mit Tieren und Kindern und natürlich Klettern, um ihn mutig zu machen. Ich war in dem Modus: „Mama muss sämtliche Angebote in Wien ausprobieren, um ihr Kind der Norm anzupassen“. Das Ganze lief die nächsten drei Jahre über, bis mein Sohn mit der Schule begann. Mit diesem neuen Abschnitt war es nicht nur mit all den Therapien aus, es war auch aus mit seiner und meiner Motivation.

„Ihr Sohn wird Probleme mit der Konzentration haben. Die Reize werden zu viel für ihn sein!“  (Unnötige) Angst war vorprogrammiert

Schule – wie wird er das schaffen, mein hochsensibles, einzigartiges und wunderbar anstrengendes, herausforderndes Kind? Gut schaffte er es! Im Kindergarten sagten sie mir, er werde große Probleme mit der Konzentration auf Lehrinhalte haben. Nun, er ist eines der konzentriertesten Kinder in der Klasse. Die Reize werden zu viel für ihn sein! Nein – er kommt bestens zurecht, nur manchmal sagt er, dass es ihm zu laut in der Klasse sei, dann zieht er sich zurück. Er zählt zu den besten Schülern, in manchen Bereichen überdurchschnittlich begabt, Sport und Werken hingegen münden oftmals in einer kleinen Katastrophe. Aber auch damit kommt er mittlerweile gut zurecht. Im Gruppenverhalten ist mein Sohn sehr schüchtern, er verfügt (noch) nicht über das gleiche Selbstbewusstsein wie seine Mitschüler. Jedoch auch in diesem Bereich verzeichnen sich Fortschritte. Kinder fühlen sich oft von ihm magisch angezogen, weil er ein hohes Maß an Empathie zeigt, was eine weitere Stärke von hochsensiblen Kindern ist.

„Mami, ich weiß doch, dass ich anders als die anderen bin. Akzeptiere mich bitte so, wie ich bin.“ Der leise Hilferuf meines Sohnes und auf einmal wusste ich, worauf es ankommt!

Ab und zu kann seine Empathie auch eine Last darstellen, er spürt sein Anderssein und spricht es offen aus. Nach meinen jahrelangen Bemühungen, ihn „der Norm anzupassen“, werde ich niemals vergessen, wie wir an einem Nachmittag über Gott und die Welt philosophierten. Mein Sohn sah mich an und meinte mit seinen damaligen sechs Jahren: „Mami, ich weiß doch, dass ich anders als die anderen bin. Ich gehe nicht gern auf Geburtstagsfeiern, mag nicht, wenn es zu laut ist, mag keine großen Kindergruppen und irgendwie bin ich halt anders als die anderen. Bitte, geh nicht mehr mit mir in die Gruppen (er meinte damit die Kletter- Moto- Sozialkompetenzgruppen), denn so gibst du mir das Gefühl, dass etwas mit mir nicht in Ordnung ist und das macht mir Angst. Akzeptiere mich bitte so, wie ich bin.“ Innerlich brach ich in Tränen aus, zu meinem Sohn sagte ich, dass ich wahnsinnig stolz auf ihn sei, er ein wunderbares Kind, genauso, wie er eben ist, sei und mit einem breiten Lächeln sagte ich zu ihm: „Jeder ist anders und doch wieder nicht“.

„Bitte, geh nicht mehr mit mir in die Gruppen (er meinte damit die Kletter- Moto- Sozialkompetenzgruppen), denn so gibst du mir das Gefühl, dass etwas mit mir nicht in Ordnung ist und das macht mir Angst. Akzeptiere mich bitte so, wie ich bin.“

– S. –

„Buddha trifft auf Ungeduld“ und das Leben in Partnerschaft mit einem hochsensiblen Kind

Ich denke grundsätzlich, dass es in einer Partnerbeziehung, auch ohne das Leben mit einem hochsensiblen Kind, „Ups and Downs“ gibt. Nach mittlerweile zehn Jahren Partnerschaft überwiegen manchmal die Downs. Mein Partner und ich haben grundsätzlich die gleiche Sichtweise auf das Leben und wie wir unser Kind erziehen wollen. Dann kann es aber wieder durch Meinungsverschiedenheiten zu Streitereien kommen. Vermehrt auch durch die Tatsache, dass unser Sohn mit zunehmendem Alter mehr Selbstbewusstsein erlangt und dadurch wunderbar anstrengend sein kann. Was ja gut ist, zumindest, was das Selbstbewusstsein betrifft! Zum Glück wird auch viel gemeinsam gelacht und so habe ich den Entschluss gefasst, dass man manchmal Dinge einfach so akzeptieren muss, wie sie eben sind. Es war ein langer, steiniger Weg bis zu dieser Erfahrung. Wie oft habe ich gejammert, warum unser Sohn nicht auch bei den Großeltern übernachten möchte oder bei Freunden, damit wir als Paar auch unbeschwert Zeit miteinander verbringen können. Die Realität sieht bei uns eben anders aus. Ich habe mit der Zeit begriffen, dass es nichts bringt, ständig die „Was wäre, wenn – Frage“ zu stellen. Mein Mann hat die Gelassenheit eines Buddhas, meint, wir müssen Geduld haben. Nur sagt er das zu einer Frau, die eben sehr ungeduldig ist, somit sind Streitereien vorprogrammiert. Aber wir haben uns entschieden, dass wir gemeinsam die Verantwortung für unser Leben in Partnerschaft und Familie tragen, mit allen „Ups and Downs“, die dazu gehören. Und diese Erkenntnis erleichtert unseren Alltag in unserer „besonderen“ Familie!

Interview mit S. im März 2021.