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Pippa & Ross mit ihrem Sohn Otto in ihrer Wahlheim Australien. Mittlerweile leben sie in Wien.

Ross lebte 17 Jahre in Australien. Als er seine österreichische Freundin, und heutige Mutter seines 2-jährigen Sohnes Otto, kennenlernte, verbrachte er viel Zeit im Flugzeug: Ein Leben zwischen Australien, Österreich und seiner Heimat Schottland. Als die Diagnose „Burnout“ gestellt wurde, begann eine Achterbahnfahrt der Gefühle – nicht zuletzt aufgrund der unerwarteten Schwangerschaft.

16.000 Kilometer Distanz: Leben auf zwei Kontinenten

Der gebürtige Schotte und Wahl-Australier Ross war beruflich in Wien, als er auf einer privaten Feier seine heutige Freundin Pippa kennenlernte. Es war Liebe auf den ersten Blick, erinnert sich Ross gerne an diesen magischen Moment zurück. Die verbleibenden Tage in Wien nutzte er, um seine neue Bekanntschaft Pippa besser kennenzulernen. Dann stieg er in den Flieger nach Sydney, Australien. Rund 16.000 Kilometer trennte die noch so junge Liebe. Dennoch fanden sie einen Weg sich regelmäßig zu sehen: Ross verbrachte abwechselnd sechs Wochen in Sydney und drei Wochen in Wien.

Erfolgreicher Unternehmer mit Burnout-Diagnose

Ross betreibt seit elf Jahren ein Research & Consulting-Unternehmen mit dem Fokus auf „Meaningful Work“ in Australien. Er spricht auf internationalen Konferenzen, verbringt viel Zeit im Flugzeug und setzt sich stets große, ambitionierte Ziele. Bis zum Zusammenbruch: Nach einer weiten Reise zwischen Amerika und Europa, kam er zurück nach Sydney. Er hatte ein spezielles Gefühl, er wusste, es war etwas mit ihm nicht in Ordnung. Also suchte er eine Ärztin auf, die ihm schon bald die Diagnose „Burnout“ erteilte. Ross erinnert sich noch genau an ihre Wortwahl „the worst case of burnout she has ever seen in her life“. Burnout scheint so ein Trendwort zu sein, dennoch ist es eine sehr ernstzunehmende Krankheit, die durch Stress verursacht wird, so Ross. „Es ist schwer das Gefühl absoluter Erschöpfung, mit einhergehenden Depressionen und Angstzuständen, zu beschreiben. Es war so schwer morgens überhaupt aus dem Bett zu kommen. Mein Kopf fühlte sich an, als ob er im Treibsand stecken geblieben wäre“, erklärt Ross. Als sein Team davon erfuhr, schien keiner von der Diagnose sonderlich überrascht gewesen zu sein. Sie hatten die Veränderungen in den Monaten zuvor wahrgenommen – sie hatten es kommen sehen.

Schweres Unterfangen: Prioritäten setzen

Von besagter Ärztin erhielt Ross eine Aufgabe: „Definiere deine Prioritäten & schreibe sie auf“. Ein schweres Unterfangen, wie sich herausstellte. Am Tag nach der Burnout-Diagnose nahm er sich frei, machte morgens Yoga unter freiem Himmel, sprang ins Meer und besuchte sein Lieblingscafé mit Meerblick. „Ich habe einfach alles Grüne bestellt. Avocados, Green Smoothies & Co. Ich hatte das Gefühl, es zu brauchen“, so Ross. Nur was er tatsächlich brauchte, waren Prioritäten und einen Lifestyle Change. Zu Hause angekommen, nahm er ein leeres Papierblatt und einen Stift zur Hand, um seine Prioritäten aufzuschreiben. Das Blatt blieb lange leer. Als er zum Schreiben ansetzen wollte, läutete sein Smartphone. Seine Freundin Pippa war dran. Es war eine ungewöhnliche Uhrzeit & sie weinte … „Ich bin schwanger“, sagte sie. „Zuerst musste ich einfach nur lachen – zerknüllte den leeren Zettel und warf ihn über die Schulter. Wenn es so in einem Film vorkommen würde, dann wäre das wohl das perfekte Ende “, erinnert sich Ross zurück.

Priorität Familie?

Ross schien plötzlich eine Priorität gefunden zu haben: Sich um seine schwangere Freundin zu kümmern. Also buchte er ein Flugticket nach Wien, um Pippa nahe zu sein. So war er auch bei Arztbesuchen dabei, um erstmals den Herzschlag des ungeborenen Kindes zu hören. Während sich andere Paare um die Kinderzimmereinrichtung kümmern, stand bei diesem Paar eine andere Entscheidung an. „Wir mussten entscheiden, auf welcher Seite der Welt wir gemeinsam leben wollen. Pippa beschloss, zu mir nach Australien zu ziehen, um mich zu unterstützen. Ein sehr mutiger Schritt, wie ich finde“, so Ross. Dennoch, die Schwangerschaft war alles andere als einfach. Vor allem Ross selbst verbindet diese Zeit mit vielen Ups & Downs, mit einem hohen Maß an Irritation und gesamt wohl als gigantische Herausforderung. Zurückzuführen ist diese Achterbahnfahrt an Gefühlen vor allem auf sein Burnout. „In diesem Zustand konnte ich einfach nicht klar denken. Es schwebte mir so viel durch den Kopf – ich konnte meine Gedanken nicht strukturieren oder zuordnen, noch für mich selbst in eine Art Prioritätenliste fassen. Und dann war da auch noch mein Business. Wie sollte ich all diese Aspekte in mein Leben integrieren? .. wie?! Es war ein Ding der Unmöglichkeit“, erinnert sich Ross an diese ausweglos scheinende Zeit zurück.

„Wir mussten entscheiden, auf welcher Seite der Welt wir gemeinsam leben wollen. Pippa beschloss, zu mir nach Australien zu ziehen, um mich zu unterstützen. Ein sehr mutiger Schritt, wie ich finde. Sie verließ ihre Familie und ihre Freunde für einen Mann, der am anderen Ende der Erde lebte und an einem Burnout litt“

– Ross –

Weihnachtliche Überraschung in Sydney

Pippa zog im 7. Schwangerschaftsmonat nach Sydney. „Sie verließ ihre Familie und ihre Freunde für einen Mann, der am anderen Ende der Erde lebt und an einem Burnout litt“, bewundert Ross seine Freundin noch bis heute. Am 24. Dezember 2018 kam Otto mittels Notkaiserschnitt zur Welt. Es war ein perfekter Moment, Otto erstmals zu sehen und ihn in Händen zu halten, erzählt Ross euphorisch. Dennoch hatte er nicht den Gedanken, dass das jetzt das Wichtigste im Leben sei. „Natürlich brauchte Otto viel Aufmerksamkeit, Liebe und Nähe – noch mehr Unterstützung brauchte meine Freundin und Mutter meines Sohnes. Sie hatte einen Kaiserschnitt – sie hatte Priorität. Also nahm ich sechs Wochen Urlaub, um mich um meine Familie zu kümmern“, so Ross. Diese arbeitsfreie Zeit war nicht nur für die frische Familie von besonderer Bedeutung, sondern auch für einen gesundheitlichen Fortschritt von Ross essentiell. Trotzdem war es keine einfache Zeit, wie Ross immer wieder betont: „Ich hatte Burnout, ich war richtig depressiv und sah oft keinen Ausweg. Ich war lange nicht geheilt und Pippa hatte es auch nicht einfach. Sie hatte Heimweh, bekam wenig Schlaf, suchte sozialen Anschluss in Muttergruppen in Sydney und wurde von ihren Emotionen wahrlich überrollt“.

Jungfamilie im Schatten des Burnouts

„Als ob das Glück eines Kindes ein Burnout heilen könnte. Man sollte doch glauben, dass ein Kind und eine Familie einem plötzlich eine Priorität geben. Und obwohl ich immer sagte, dass sie jetzt meine Priorität wären, konnte ich es in mein gesamtes Leben noch nicht einordnen“, gesteht Ross. Einerseits wollte Ross unbedingt in Australien bleiben, um sein Business in naher Zukunft weiterzuführen. Andererseits wollte er seine Freundin glücklich sehen – das bedeutete einen Umzug in Pippa’s Heimatstadt Wien. „Nur wie sollte ich in einem Land, dessen Sprache ich nicht spreche, mein Business etablieren? Wie sollte ich nur die Kraft haben, mein Unternehmen dort auszubauen, wenn es mir an mentaler Kraft fehlt?! … diese Entscheidung nach Wien zu ziehen, habe ich lange vor mir hergeschoben, ich habe Pippa lange warten lassen, weil ich mich selbst nicht entscheiden konnte. Einfach, weil mein Kopf dazu nicht imstande war“, sagt Ross.

Neustart: Umzug nach Wien

Schlussendlich kam Ross zur Entscheidung, dass Wien als Unternehmensstandort funktionieren würde. Wie das allerdings vonstatten gehen sollte, war ihm selbst noch nicht so klar. Dennoch: Als Otto 16 Monate alt war, zog die junge Familie gemeinsam nach Wien. Anfang Mai 2020, also inmitten der Corona-Pandemie, landete Ross mit seiner Familie am Flughafen Wien und fuhr direkt ins Wochenendhaus seiner Schwiegereltern, um die 14-tägige Quarantäne anzutreten. Für die junge Familie fühlte es sich wie Urlaub an: Gemeinsam aufstehen und frühstücken, Freizeitaktivitäten im eigenen Garten sowie Kochsessions als Family. Schon im Sommer kehrte Pippa Vollzeit in ihren Job zurück und Ross kümmerte sich tagtäglich um Otto. Gemeinsam entdeckten sie ihre neue Heimat. Das Vater-Sohn-Gespann zog durch die Straßen Wiens, suchte Geheimtipps, fand großartige Spielplätze und lernte andere Familien kennen. Eine Zeit, die nicht nur für die Bindung von immenser Bedeutung war, sondern auch für Ross und seine Gesundheit.

Vom Burnout geheilt?

Kurz & bündig: Ja, beinahe gänzlich. „Ich habe mich vor allem schon von den körperlichen Symptomen – also der physischen Erschöpfung – erholt. Außerdem lernte ich achtsamer zu sein, im jetzigen Moment zu leben und vor allem die großen Wunder in kleinen Dingen zu sehen. Endlich konnte ich wieder Möglichkeiten und Chancen in der Welt sehen – anstatt mich in meinem eigenen Kopf gefangen zu fühlen. Otto zeigte mir die Welt aus seiner Perspektive – und genau diesen kreativen und stets optimistischen Ansatz, an Dinge heranzugehen, hatte ich durch das Burnout verlernt“, gesteht Ross. Obwohl sich der Unternehmer jetzt viel gesünder fühlt, muss er dennoch darauf achten, nicht in alte Gewohnheiten, die das Burnout verursachte hatten, zurückzufallen. Natürlich gibt es herausfordernde Tage: Immerhin lebt Ross in einer neuen Stadt, lernt eine neue Sprache sowie eine neue Kultur kennen, sucht und findet einen neuen Freundeskreis, gründet ein neues Unternehmen und ist gleichzeitig auch noch Vater. Das kann an so manchen Tagen ziemlich überwältigend sein. Heute weiß Ross jedoch, wie er mit solchen Tagen besser umgeht. Er empfängt sie mit offenen Armen und gibt ihnen einen Sinn – er sieht sie aus einer anderen Perspektive und nennt sie „Teil des Heilungsprozesses“.

Achtsamkeit, Balance & Entscheidungskraft

Ross hat gelernt Entscheidungen zu treffen: „Ich habe für mich entschieden beruflich zurückzuschalten und die Zeit, vor allem die mit der Familie, zu genießen. Meine Familie steht an erster Stelle. Das Business in Wien muss nicht sofort mit dem Umzug zu 100% starten, sondern es kann sich Zeit lassen – ich bin überzeugt, dass mein Unternehmen auch hier funktionieren wird“, so Ross über einen wichtigen Meilenstein. Außerdem soll „Otto niemals mit meinen internen oder externen Herausforderungen konfrontiert sein. Deshalb drehe ich mein Smartphone ab, sobald ich mit ihm unterwegs bin. Er hat meine volle Aufmerksamkeit verdient. Zudem tut’s meiner Seele gut“, sagt Ross. Dennoch würde er sich nicht als geheilt sehen. Vielmehr sei es ein langer Heilungsprozess, für den es neben der Geduld, auch vermehrte Achtsamkeit, Balance und Entscheidungskraft erfordert.

Interview mit Ross im März 2021.