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(Frühkindlichen) Autismus verstehen – Wir haben Mag.a. Helen Müllner, klinische Psychologin und Mag.a. Jennifer Klose zum Interview getroffen.

Um Autismus verstehen zu können, muss erst einmal die Frage gestellt werden: Was ist überhaupt „Autismus“?

Bei einer Autismus-Spektrum-Störung handelt es sich um eine tiefgreifende (neurologische) Entwicklungsstörung, die durch eine andere Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung von sensorischen und sozialen Reizen gekennzeichnet ist. Die Beeinträchtigungen, die sich durch diese Diagnose ergeben, zeigen sich im Kontakt und in der Verständigung mit anderen Personen (qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion und Kommunikation) sowie in sich wiederholenden Interessen, Tätigkeiten und Verhaltensweisen (stereotype/repetitive Verhaltensweisen und Interessen). Weitere Auffälligkeiten im Rahmen einer Autismus-Spektrum-Störung können sein:

  • Blick für Details, jedoch Schwierigkeiten den Gesamtkontext zu erfassen,
  • Einschränkungen der Planungsfähigkeit bei komplexen Handlungsabläufen,
  • Sensorische Überempfindlichkeit gegenüber Gerüchen, Geräuschen, Licht, leichten und unerwarteten Berührungen, bestimmten Textilien, einengenden Materialien,
  • Motorische Besonderheiten (mitunter Schwierigkeiten bei der Fein- und/oder Grobmotorik).

Der Begriff „Spektrum“ soll verdeutlichen, dass Autismus in verschiedenen Ausprägungen und Schweregraden vorhanden sein kann.

Zusätzlich bestehen bei Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung sensorische Über- und/oder Unterempfindlichkeiten, die sich durch eine andere (neurologisch bedingte) Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung der eintreffenden Umweltreize erklären lassen.

Welche Formen/Arten von Autismus gibt es?

In der aktuellen Version der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) werden drei Formen von Autismus unterschieden:

  1. Frühkindlicher Autismus
  2. Atypischer Autismus
  3. Asperger-Syndrom

Je nach Erfüllung der Kriterien wird eine spezifische Diagnose gestellt, sollte keine der Kriterien ausreichend erfüllt sein kommt es zur Kategorisierung „Tief greifende Entwicklungsstörung, nicht näher bezeichnet“

Können Sie typische Anzeichen für frühkindlichen Autismus nennen?

Dies sind u.a. typischen Anzeichen für frühkindlichen Autismus:

  • Sprachentwicklungsverzögerung,
  • fehlendes „so-tun-als-ob-Spiel“ und „in-sich-gekehrt-sein“,
  • wenig Interesse an sozialen Beziehungen,
  • Auffälligkeiten beim Blickkontakt (vermeidend),
  • außergewöhnliche/spezifische Interessen (z.B. Züge, Straßenbahnen, Autos, technische Geräte, etc.),
  • stereotypes Verhalten – starres/rigides Festhalten an Routinen und/oder Ritualen (bspw. Schwierigkeiten, wenn sich Abläufe, wie die Morgenroutine, nur ein wenig ändern) sowie
  • sensorische Über-/Unterempfindlichkeiten (betrifft bspw. die Lautstärke in der Umgebung, die Lichtintensität, usw.)
Was sollten Eltern tun, wenn sie vermuten, dass ihr Kind autistisch ist?

Wenn Eltern eine Vermutung haben, ist zu empfehlen eine klinische Psychologin zur Beratung heranzuziehen. Der Vorteil einer früher Erkennung ermöglicht eine baldige adäquate Förderung von Kinder mit ASS.

Es empfiehlt sich Kontakt mit Fachleuten (Kinderarzt, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Klinischer- und Gesundheitspsychologe, Sonder- und Heilpädagoge) aufzunehmen und in Beratungs- und Klärungsgesprächen den Verdacht zu äußern und die Notwendigkeit einer ausführlichen klinisch-psychologischen Diagnostik abzuklären. Im Rahmen dieser kommen spezielle standardisierte Tests- und Fragbogenverfahren zur Anwendung, um den Verdacht über das Vorhandensein einer ASS zu verifizieren oder falsifizieren.

Haben Kinder mit frühkindlichem Autismus besondere Interessen oder Hobbies?

Ein Hauptsymptom der ASS sind restriktive, repetitive Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten – das bedeutet, dass Kinder mit ASS u.a. eine starke Fixierung auf eingeschränkte Interessen/Tätigkeiten haben. Es kommt sehr häufig vor, dass sich Kinder mit ASS sehr lange und intensiv mit dem „Spezialthema“ beschäftigen und/oder dass das Thema an sich ungewöhnlich ist (z.B. Bakterien/Viren, Zugfahrpläne, elektrische Leitungen, etc.).

Nichtsdestotrotz können auch alterstypische Themen als besonderes Interesse von Kindern mit ASS ausgewählt werden (z.B. Dinosaurier, Pferde, Disney-Filme). Der Unterschied zu neurotypischen Kindern bestünde dann in der ausgeprägten und ausschließlichen Beschäftigung nur mit dem einem Thema und dem offensichtlich erworbenen „Experten-Wissen“ (z.B. alle Dinosaurierer-Arten aufzählen können, Dialoge aus Disney-Filmen rezitieren können, etc.)

Mit welchen Vorurteilen müssen sich Autisten immer wieder herumschlagen und welche Vorurteile stimmen nicht?

Ein vorherrschendes Vorurteil ist immer wieder die fehlende Empathie, welche sich nicht bestätigen lässt. Menschen mit ASS sind genauso in der Lage empathisch auf ihr Umfeld zu reagieren. Es wird oftmals auch angenommen, dass das Bedürfnis nach Freund-, Partnerschaften und der generell Wunsch nach sozialen Kontakten bei Autisten nicht oder weniger vorhanden sei.

Wie entwickelt sich frühkindlicher Autismus? Ist frühkindlicher Autismus heilbar bzw. verändert er sich im Laufe der Jahre?

Frühkindlicher Autismus bzw. jede Form des Autismus ist nicht heilbar, da sich nicht um eine Krankheit handelt, sondern um eine tiefgreifende Entwicklungsstörung. In der Wissenschaft sind genetische Risikofaktoren und früh wirksame Umweltfaktoren gut belegt. Die Heritabilität liegt bei 40 – 80 % (Zwillings- und Familienstudien). Im Bezug auf den frühkindlichen Autismus wird bei Buben/Männer 2-3-fache häufiger  eine Diagnose gestellt als bei Mädchen/Frauen. Beim Asperger Syndrom liegt das Verhältnis sogar bei 8:1.

Wie erleben Sie die Gesellschaft im Umgang mit autistischen Menschen, besonders im Umgang mit autistischen Kindern?

Die Akzeptanz und Sensibilität für die Diagnose steigen in der Gesellschaft, aber gibt es im Vergleich zum Bedarf noch immer viel zu wenige Therapiemöglichkeiten, die auch oftmals eine finanzielle Belastung mit hohen Therapiekosten für die Familien bedeuten.  Die Krankenkassen refundieren nicht jede Behandlung zur Gänze.

Was würden Sie Eltern raten, die gerade die Diagnose Autismus für ihr Kind bekommen haben? Worauf müssen sie sich einstellen?

Oftmals ist eine Diagnose auch eine Erleichterung für die Eltern, da die wahrgenommenen Auffälligkeiten nun endlich einen „Namen bekommen“ und man konkrete Handlungen setzen kann, um das eigene Kind im Alltag/Leben/Schule zu unterstützen. Eine pauschale Antwort ist hier kaum möglich, da jedes Kind mit seinen Ausprägungen am Spektrum ganz individuell ist. Aber was immer zu empfehlen ist, sich Unterstützung und Hilfe von Fachpersonal zu holen, wenn es zur Überforderung innerhalb der Familie kommt. Manchmal ist der Blick von außen, der neuen Lösungen aufzeigt. Menschen mit ASS können ein normales Leben (Schule, Lehre, Studium, Arbeit, Beziehungen eingehen, Familie gründen) führen – manche vielleicht mit mehr Unterstützung und manche wiederum ganz selbstständig.

Weiterführende Links und Quellen: 
🌈Story zum Thema „Diagnose: Frühkindlicher Autismus“ 🌈